Bittschrift an die Volksvertreter des Fürstentum Andorra |
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Andorras Bürger empören sich über Willkürgesetze
Offener Brief an die Parlamentarier
23.06.2014
In einem offenen Brief an die Abgeordneten des andorranischen Parlaments fordern die Unterzeichner die Beachtung der Verfassung und die Respektierung der Menschenrechte von den Volksvertretern.
Unmittelbar vor dem Besuch des französischen Staatspräsidenten François Hollande in Andorra wendeten sich zahlreiche Bürger aus allen Teilen der Gesellschaft von Andorra, in einem aufrüttelnden Schreiben an die Abgeordneten des Parlaments und die Medien des Fürstentums.
Die Unterzeichner der Initiative nennen sich 'Ciutadans d'Andorra molt preocupats' ins Deutsche übersetzt 'Sehr besorgte Bürger von Andorra'. Die fast 60 Unterzeichner sehen ihre durch die Verfassung garantierten Menschen- und Grundrechte verletzt.
In dem dreiseitigen Schreiben [1] mit mehreren Seiten Unterschriften werden die Verletzung der Artikel 3, 3.2, 5, 6, 17 und 27 der andorranischen Verfassung und der Artikel 7, 17, 20.2 und 30 der 'Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte' (AEMR) durch das 'Llei del Sòl' [2] beklagt.
Immobilien-Eigentum nicht mehr sicher in Andorra
Die Bittschrift richtet sich insbesondere gegen die Missachtung der Verfassung durch:
- eine rückwirkende Gültigmachung von Gesetzen (Retroaktivität), obwohl die Verfassung mit Priorität das Rückwirkungsverbot, die Nichtverletzung der erworbenen Rechte als Basis eines Rechtsstaates garantiert. Dies bewirkt eine enorme Rechtsunsicherheit, da zuvor selbst vom Parlament erteilte Genehmigungen durch das Gesetz nun aufgehoben werden;
- die pauschale Enteignung von Grund-Eigentum ohne Entschädigung und ohne Vorliegen eines allgemeinen öffentlichen Interesses. Das Eigentumsrecht ist dadurch nicht mehr gewährleistet. Da Betroffene sich gegen Zahlung von Geld an die Gemeinde von der Enteignung befreien lassen können, liegt kein echtes öffentliches Interesse vor;
- die Verpflichtung zur straßenweisen Zwangsassoziierung und die zwangsweise Übernahme von Aufgaben und Kosten der öffentlichen Hand zum Zweck der Stimmulierung der Wirtschaftskonjunktur. Es können leicht Kosten von 300.000 EUR und einem vielfachen davon entstehen, das überfordert kleine Eigentümer und führt zur Zwangsverschuldung und Enteignung;
-
Verantwortung wird nicht an das Eigentum gebunden. In einigen Gebieten werden die Immobilien-Eigentümer gezwungen eine neue Infrastruktur auf dem Grund und Boden von Dritten Immobilieneigentümern bauen zu lassen;
- und die mangelhafte Gleichbehandlung durch eine selektive Anwendung der Gesetze. Das Gesetz gilt zwar landesweit, die Entscheidung, bei wem und wann das Gesetz zur Anwendung kommt, liegt in der Macht der einzelnen Gemeinden, was der Willkür Tür und Tor öffnet.
Eine Unterzeichnerin äußert sich 'noch nie in ihrem ganzen Leben so unter Druck gesetzt worden zu sein wie in Andorra'. Kleine Eigentümer fürchten durch die drohende Zwangsverschuldung ihr gesamtes Eigentum und ihre Existenz zu verlieren. Viele Eigentümer, nicht nur ausländische, sondern auch die einheimischen, wissen noch nicht einmal, dass sie von dem Gesetz betroffen sind.
Aufforderung der Einhaltung der Verfassung und der Menschenrechte
Die Unterzeichner fordern in dem offenen Brief von den Mitgliedern des andorranischen Parlaments die Einhaltung der Verfassung und die Respektierung der Menschenrechte bei der Gesetzgebung:
"Jedes Gesetz soll die Normenhierarchie (Artikel 3.1 Verfassung von Andorra) beachten und kein Gesetz soll so abgefasst und ausgelegt werden, daß dieses irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in der Verfassung und den Menschenrechten verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat (Artikel 30 der Menschenrechte)."
Zielsetzung ist die Änderung oder Abschaffung der Gesetze, die im Widerspruch zur andorranischen Verfassung und den Menschenrechten stehen durch das Parlament.
Die Medien nehmen keinerlei Notiz
In den andorranischen Medien [3] hat der offene Brief [4] bisher keine Resonanz gefunden, obwohl sonst von jeder Belanglosigkeit berichtet wird. Die System-Medien praktizieren häufig vorauseilend Gehorsam durch Selbstzensur [5], so dass der Unterschied zwischen 'öffentlicher Meinung' und 'veröffentlichter Meinung' immer größer wird. Zum Ausbau der Kontrolle über die Medien bereitet das Parlament derzeit ein 'Maulkorbgesetz' [6] vor.
Wirkung von Bittschriften und Petitionen
Die Zulässigkeit von Petitionen ist bereits in vielen Staaten ein allgemein anerkannter Bestandteil der demokratischen Grundrechte eines jeden Bürgers. Die andorranische Verfassung sieht ein derartiges Individualrecht leider nicht vor. Ob die als offener Brief abgefasste Bittschrift bei den Abgeordneten überhaupt Beachtung findet, bleibt deshalb abzuwarten. Vielfach besteht bei Politikern in Andorra die Auffassung, dass Beschwerden Einzelner keine Beachtung erfordern, besonders wenn darunter auch Einwohner aus den Kategorien der nicht wahlberechtigten Bevölkerungsteile sind.
Dabei wird vergessen, dass Menschenrechte immer Individualrechte sind und nicht an ein Kollektiv gebunden sind.
Erst bei Ersuchen, die von mindestens 10 Prozent der Wahlberechtigten getragen werden, sind die Parlamentarier in Andorra verpflichtet, sich der Angelegenheit anzunehmen. [7]
Einhaltung der Menschenrechte durch Einmischung
Immer wieder kommt es dazu, dass Gesetze im krassen Widerspruch zur andorranischen Verfassung und den Menschenrechten stehen [8]. In der Vergangenheit hatten die meisten innerstaatlichen Bemühungen keinen Erfolg gezeigt.
Die Herrschenden vergessen allzu gerne, dass jede nationale Norm, die im Widerspruch zu einer Norm des 'ius cogens' dem 'zwingenden Recht' steht, nichtig ist. Daran hat sich trotz des von der andorranischen Assoziation für Menschenrechte [9] organisierten geballten Aufgebots an international renomierten Kompetenzträgern [10] zur Sensibilisierung für das Thema Menschenrechte in Andorra nichts geändert. Die elementaren Menschenrechte sind aber der zentrale Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts und damit 'zwingendes Recht'. Meist bedurfte es jedoch erst einer Intervention von außen, um Einsicht bei den Verantwortlichen herbeizuführen, damit es zu einer Änderung umstrittener Gesetze kommt.
Die Verletzung von Menschenrechten ist keine innere Angelegenheit
Seit der Kodifizierung der Menschenrechte können sich Staaten bei einer Verletzung der Menschenrechte nicht mehr auf das aus dem staatlichen Souveränitätsanspruch abgeleitete Prinzip der Nichteinmischung zurückziehen.
Selbst "Totalitäre Staaten, die sich daraufhin unter Berufung auf das Nichteinmischungsprinzip ihren Vertragspflichten entziehen wollten, mussten demgemäß in ihrer Argumentation scheitern." [11]
Ursachen der Verletzung von Verfassung und Menschenrechten
Die wirtschaftlichen Interessen einiger politisch einflussreicher Personen werden zum Gemeinwohl erhoben zur Rechtfertigung von Enteignung und Existenzvernichtung. Grund- und Mennschenrechte sind in wirtschaftlich schwierigen Zeiten besonders gefährdet.
In der wissenschaftlichen Analyse wurde bereits messerscharf erkannt:
"Viel zu oft geht es ... um den Machterhalt der herrschenden Elite und um deren finanzielle Bereicherung" [12].
Im Fundament geht es genau um das.
Rechtsunsicherheit gefährdet den Standort Andorra
Ignoranterweise versucht die Regierung zur gleichen Zeit neue Residenten ohne wirtschaftliche Aktivität und ausländische Investoren anzulocken, die Reichtum in das Land bringen. "Viele potentielle Interessenten werden die Verhältnisse als eine große Rechtsunsicherheit empfinden, die nicht zu einem Vertrauen in das Land inspiriert." Rechtsunsicherheit über die Respektierung und Durchsetzbarkeit der durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechte trägt definitiv nicht zur Steigerung der Attraktivität eines Standorts bei. Mangelnde Respektierung von Privateigentum ist Gift für jeden Investitionsstandort.
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[1] Pressemitteilung: 'Ciutadans d'Andorra molt preocupats - Carta oberta als Consellers Generals en
relació amb la vulneració de la constitució i dels drets humans a Andorra' vom 15.06.2014
[2] Die Bezeichnung 'Llei del Sòl' steht für ein Gesetzeskonglomerat das im wesentlichen das 'Llei
General d’Ordenació del Territori i Urbanisme' (LGOTU) vom 29.12.2000 und die späteren
Modifizierungen (BOPA 13010 2001, modifiziert am 21.06.2006 (BOPA 18056) und am 28.07.2011
(BOPA 23054)), die Normen der Gemeinden 'Pla d’Ordenació i Urbanisme Parroquial' (POUP)
genannt, wie z.B. (BOPA 18063 nicht elektronisch verfügbar und nicht online konsultierbar) sowie
das 'Reglament Urbanístic' vom 05.10.2011 (BOPA 23061) beinnhaltet.
[3] Adressen: Printmedien in Andorra
http://www.andorra-intern.com/adressen/de_printmedien.htm
[4] Ein offener Brief wird definiert als ein Schreiben durch den der Empfänger zu einer öffentlichen
Stellungnahme zum Gegenstand des Schreibens aufgefordert wird.
[5] Medien Selbstzenzur und Konjunkturpolitik mit Zwangsinvestitionen
http://www.andorra-intern.com/2012/medien-selbstzensur.htm
[6] 'Maulkorbgesetz' für Medien in Andorra in Vorbereitung
http://www.andorra-intern.com/2014/maulkorbgesetz.htm
[7] Siehe Artikel 58, Absatz 2 der Verfassung des Fürstentums von Andorra über das
Gesetzgebungsverfahren
[8] Bekanntestes Beispiel ist das Ausländer in Andorra betreffende "Llei qualificada de residències
passives", vom 28. November 1996 (BOPA 1996, 1807), welches die Rechte und Pflichten der
Ausländer in Andorra regelt.
[9] 'Institut de Drets Humans d'Andorra' (IDHA)
[10] Nachhilfeunterricht für Andorra in Sachen Menschenrechte
http://www.andorra-intern.com/2013/nachhilfeunterricht.htm
[11] Kissling, Claudia: Menschenrechtlicher Mindeststandard (Humboldt Forum Recht - Die juristische
Zeitschrift an der Humboldt-Universität zu Berlin (HFR), 2001, S. 2, Staatliche Souveränität contra
Intervention, Abschn. 6
http://www.humboldt-forum-recht.de/deutsch/12-2001/index.html
[12] Vgl. Kissling, Claudia: Menschenrechtlicher Mindeststandard, HFR 12/2001, S. 3, Universalität versus
Relativismus, Abschn. 9
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Andorra-Intern - 10.09.2014, 11:55 h
Andorras Medien können die Verletzung der Verfassung nicht länger ignorieren
Mit erheblicher Verzögerung nimmt sich am 9.9.2014 die am verbreitetste Tageszeitung des Landes 'Diari d'Andorra' dem Problem der Verletzung der Verfassung und der Menschenrechte an.
Unter der Überschrift "Els veïns .. insisteixen al Consell que reconsideri la Llei del sòl" 'Nachbarn insistieren beim Parlament auf eine erneute Überprüfung des Gesetzes' berichtet das regierungsnahe Blatt auf Seite 14.
Auffallend ist jedoch, dass der Artikel die rückwirkende pauschale entschädigungslose Enteignung ohne Vorliegen eines öffentlichen Interesses nicht thematisiert. |
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Andorra-Intern - 08.09.2014, 12:05 h
Reminder an die Abgeordneten
Genau einen Tag vor dem symbolträchtigen Nationalfeiertag erinnert die Bürgerbewegung 'Ciutadans d'Andorra molt preocupats' erneut die Abgeordneten des Landes in einem offenen Brief an die bestehenden Verletzungen der Verfassung und der Menschenrechte durch Gesetze in Andorra. |
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Andorra-Intern - 23.07.2014, 17:18 h
Desinformation für englischsprachige Residenten in Andorra
Der vom Club International monatlich herausgegebene englischsprachige Newsletter erwähnt die Initiative ebenfalls. Jedoch wurde der Sachverhalt komplett verdreht und falsch dargestellt. Das deutet darauf hin, dass dem englischsprachigen Teil der Bevölkerung, der der katalanischen Sprache nicht mächtig ist, bewusst Sand in die Augen gestreut werden soll. Siehe: 'Around the parishes', in: International Club of Andorra Monthly News, Nr. 605 vom 2. Juli 2014, S 5. |
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Webmaster Andorra-Intern - 27.06.2014, 14:16 h
Nachtrag
11 Tage nach dem offenen Brief an die Volksvertreter von Andorra erschien am Donnerstag 26. Juni 2014 in der andorranischen Ausgabe der spanischen Tageszeitung el Periòdic mit der Titelstory 'Veïns d'Auvinyà volen que s'anul·li la llei del sól' und auf Seite 3 als Thema des Tages ein ganzseitiger Bericht unter der Überschrift 'Propietaris s'uneixen perquè es declari inconstitucional la Llei del sòl', sowie in der Online Ausgabe 'el Periòdic d'Andorra' mit Kommentaren über die Beweggründe der Bürgerinitiative und die mangelnde Verfassungskonformität des Gesetzes. |
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